Angelo Alfredo Lüdin

Angelo A. Lüdin, 1950 geboren, studierte Fotografie an der Schule für Gestaltung in Zürich. Seine Fotografien waren bisher in zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Er erhielt diverse Preise und Ankäufe. Daneben machte er eine Weiterbildung in Schauspielführung und war Theaterhospitant bei Andrea Breth, Theater am Neumarkt in Zürich, und bei Werner Düggelin, Theater Basel. Lüdin lebt in Basel und lehrt im Teilpensum an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel.

 


 

„Hirschhorns Werk ist mir seit den 1990er-Jahren bekannt. Seine Ästhetik und seine Bild-Text-Häufungen stossen oft auf Unverständnis. Seine Arbeiten stören die Schönheit, mit dem der Kunst- begriff noch immer in Verbindung stehen kann. Nachdem ich das Werk «Crystal of Resistance» an der Biennale in Venedig 2011 gesehen hatte, besuchte ich Hirschhorn bei einem Vortrag im Schaulager Basel und später in seinem Atelier in Paris. Thomas Hirschhorns verständliche und bescheidene Art, über seine Arbeit zu sprechen, hat mich fasziniert und auch skeptisch gemacht. Denn letztlich wird sein radikales Werk vor allem von einem bürgerlichen, kunstinteressierten Publikum wahrgenommen. Was löst dies bei den Bewohnern eines armen und in Sachen Bildung unterprivilegierten Quartiers wie der Südbronx aus?

Meine Affinität zu Persönlichkeiten wie Thomas Hirschhorn liegt darin begründet, dass mich Men- schen interessieren, die sich mit emotionaler Besessenheit ihrer Berufung und dem Leben stellen. Was mich am Künstler Thomas Hirschhorn besonders beeindruckt ist, mit welcher Haltung, Sorgfalt, Präzision und Obsession er seine künstlerischen Mittel einsetzt. Mit seiner Entschlossenheit und Kühnheit stellt er sich inhaltlich und formal hartnäckig gegen jegliche Konventionen.1 Das sind Voraussetzungen, die Thomas Hirschhorns Arbeiten überhaupt erst möglich machen. Dabei wird nicht die formale Perfektion angestrebt, sondern ernsthaftes Engagement, um Inhalte zu transportieren. Er verkörpert nicht nur seine eigene (Welt-)Geschichte, er dominiert die Gegenwart mit seiner «denkwürdigen» Kunst.

Die aussergewöhnliche Konstellation, dass Philosophie, Kunst und das ungeschönte reale Leben aufeinandertreffen, löst Fragen aus: Kann Kunst die Grenzen zwischen sozialen Hierarchien auf- lösen? Was löst Gramscis Philosophie im Bewusstsein der Bronxbewohner aus? Wie verstehen sie Gramscis Texte in Bezug auf ihren Alltag? Wie erleben sie Hirschhorns kompromisslose, ‚elitäre‘ Kunst?

Ich will die Relevanz und Auswirkungen von Hirschhorns essentiellem Ziel erkunden: «Die Arbeit für den anderen bedeutet in erster Linie für den anderen in mir selbst. Es bedeutet auch Arbeit für eine nicht-exklusive Öffentlichkeit. Der andere kann mein Nachbar sein oder ein Fremder, jemand, der mich erschreckt, den ich nicht kenne und nicht verstehe.» Was heisst es, Kunst als Werk- zeug zu benutzten, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen, sich mit der Zeit zu konfrontieren oder der Realität zu stellen? Was heisst «Kunst politisch machen – nicht politische Kunst machen»?

Ich denke, dass dieser Film dem Publikum einen kritischen, neuen und einmaligen Einblick in Hirschhorns Arbeit geben kann. Die meisten Menschen werden nie das Privileg haben, einen wichtigen Gegenwartskünstler in seinem Denken, seinen Emotionen, seiner Energie, seiner Kompromisslosigkeit, seiner Widersprüchlichkeit, seinen kreativen Strategien und in seinem Arbeitsprozess kennen zu lernen. Mit diesem Kinodokumentarfilm will ich aber noch mehr. Ich will über Hirschhorn Kunst hinausblicken: Drei Monate nach der Kunstintervention werde ich die Protagonistinnen und Protagonisten aus der Sozialbausiedlung nochmals aufsuchen. Wie nachhaltig kann Kunst sein?“