Thomas Hirschhorn, einer der wenigen Schweizer Künstler von Weltrang, wagt es immer wieder, mit seinen kreativen Arbeiten an gesellschaftspolitischen Wunden zu rühren. Im Jahr 2013 macht sich Hirschhorn in Forest Houses, einer Sozialbausiedlung in der Südbronx, an den Bau des «Gramsci Monument». Fernab des New Yorker Kulturbetriebes will der streitbare Künstler zusammen mit unqualifizierten Mitarbeitern aus der Nachbarschaft das Projekt umsetzen. Gegenseitige Provokationen und Probleme sind vorprogrammiert, denn Hirschhorns absolute Hingabe an die Kunst sieht sich mit der von Armut und Arbeitslosigkeit geprägten Realität der Bewohner konfrontiert. Der Weg zum Monument – so schön erdacht in seinem Pariser Atelier – erweist sich als schwieriger als erwartet!
Thomas Hirschhorn
Erik Farmer
Clyde Thompson
BewohnerInnen der Sozialbausiedlung Forest Houses, Bronx, NY
u.v.m.
Drehbuch & Regie: Angelo A. Lüdin
Kamera: Pio Corradi
Montage: Mirjam Krakenberger
Ton: Olivier JeanRichard
Musik: Fidelio Lippuner
Aufnahmeleitung: Frank Matter, Mary Bosakowski
Produzent: Frank Matter
Produktion: soap factory GmbH, Basel
Koproduktion: Schweizer Radio und Fernsehen, SRG SSR
Thomas Hirschhorn wird 1957 in Bern geboren und wächst in Davos auf. Nach einer Lehre als Typograf schliesst er 1983 das Studium an der Grafikfachklasse an der Schule für Gestaltung und Kunst in Zürich ab. Unter dem Eindruck eines Vortrags des französischen Grafikerkollektivs Grapus zieht er 1984 nach Paris.
Unzufrieden mit der Stellung des Grafikers beginnt er 1986, künstlerisch autonom zu arbeiten. Darin bestärkt wird er durch die Auseinandersetzung mit den philosophischen Schriften französischer Denker wie Gilles Deleuze und Jacques Derrida sowie mit der Kunst insbesondere von Joseph Beuys und Andy Warhol.
Ab Mitte der 90er-Jahre werden seine Collagen und Assemblagen raumgreifender. Installationen und Videoarbeiten sind oftmals auch als Kunst im öffentlichen Raum konzipiert. Bereits seine erste Einzelausstellung, 1994 im Pariser Jeu de Paume, erregt internationales Aufsehen. Hier zeigt sich schon die charakteristische Verbindung von einem spezifischen formalen Repertoire, das an Bastelarbeiten erinnert, mit der französischen Tradition der Dekonstruktion.
Der Künstler wählt betont billige, alltägliche Bau- und Verpackungsmaterialien wie Sperrholz, Karton, Klebeband, Plastik und Alufolie. Ergänzend kommen Bilder und Texte aus Zeitungen und Zeitschriften sowie philosophische Texte von ihm bewunderter Schriftsteller und Philosophen (unter anderen Robert Walser und Georges Bataille) hinzu.
Hirschhorns Auffassung von Kunst als politisch-sozialem Engagement will Zusammenhänge sicht- bar machen und den Betrachter mit ihnen konfrontieren, aber, so Hirschhorn: «Ich denke, es geht nicht darum, politische Kunst zu machen, sondern Kunst auf politische Weise zu machen, und das deklariert man doch nicht.»
Internationales Aufsehen erregte besonders die heftigen Reaktionen auf die Installation «Swiss- Swiss Democracy» im Schweizer Kulturzentrum in Paris im Jahre 2004. In der Arbeit finden sich, neben vielen anderen Bild- und Textfragmenten, Collagen, die aus Folterbildern aus dem Irak und aus Wappen der Schweizer Kantone bestehen. Zahlreiche Schweizer Politiker lehnten in den Medien die Installation als «skandalös» ab, da sie der Darstellung der Schweiz schade. Als der eigentliche Skandal muss aber die folgende Vergeltungsmassnahme des Nationalrates gelten, der der Kulturstiftung Pro Helvetia das Jahresbudget um eine Million Schweizer Franken gekürzt hat. Hirschhorns temporäre Ausstellungen sind u. a. Hommagen an seine favorisierten Denker; 1999 in Amsterdam das «Denkmal für Benedict de Spinoza», 2000 in Avignon eines für Gilles Deleuze, 2002 in Kassel das «Bataille-Monument» auf der Documenta XI. Thomas Hirschhorn ist immer be- strebt, während der ganzen Ausstellungsdauer vor Ort zu sein. Er baut das Monument zusammen mit den Anwohnern auf und ab und betreut es. So kommt es zu Begegnungen vielfältiger Art.
Angelo A. Lüdin, 1950 geboren, studierte Fotografie an der Schule für Gestaltung in Zürich. Seine Fotografien waren bisher in zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Er erhielt diverse Preise und Ankäufe. Daneben machte er eine Weiterbildung in Schauspielführung und war Theaterhospitant bei Andrea Breth, Theater am Neumarkt in Zürich, und bei Werner Düggelin, Theater Basel. Lüdin lebt in Basel und lehrt im Teilpensum an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel.
„Hirschhorns Werk ist mir seit den 1990er-Jahren bekannt. Seine Ästhetik und seine Bild-Text-Häufungen stossen oft auf Unverständnis. Seine Arbeiten stören die Schönheit, mit dem der Kunst- begriff noch immer in Verbindung stehen kann. Nachdem ich das Werk «Crystal of Resistance» an der Biennale in Venedig 2011 gesehen hatte, besuchte ich Hirschhorn bei einem Vortrag im Schaulager Basel und später in seinem Atelier in Paris. Thomas Hirschhorns verständliche und bescheidene Art, über seine Arbeit zu sprechen, hat mich fasziniert und auch skeptisch gemacht. Denn letztlich wird sein radikales Werk vor allem von einem bürgerlichen, kunstinteressierten Publikum wahrgenommen. Was löst dies bei den Bewohnern eines armen und in Sachen Bildung unterprivilegierten Quartiers wie der Südbronx aus?
Meine Affinität zu Persönlichkeiten wie Thomas Hirschhorn liegt darin begründet, dass mich Men- schen interessieren, die sich mit emotionaler Besessenheit ihrer Berufung und dem Leben stellen. Was mich am Künstler Thomas Hirschhorn besonders beeindruckt ist, mit welcher Haltung, Sorgfalt, Präzision und Obsession er seine künstlerischen Mittel einsetzt. Mit seiner Entschlossenheit und Kühnheit stellt er sich inhaltlich und formal hartnäckig gegen jegliche Konventionen.1 Das sind Voraussetzungen, die Thomas Hirschhorns Arbeiten überhaupt erst möglich machen. Dabei wird nicht die formale Perfektion angestrebt, sondern ernsthaftes Engagement, um Inhalte zu transportieren. Er verkörpert nicht nur seine eigene (Welt-)Geschichte, er dominiert die Gegenwart mit seiner «denkwürdigen» Kunst.
Die aussergewöhnliche Konstellation, dass Philosophie, Kunst und das ungeschönte reale Leben aufeinandertreffen, löst Fragen aus: Kann Kunst die Grenzen zwischen sozialen Hierarchien auf- lösen? Was löst Gramscis Philosophie im Bewusstsein der Bronxbewohner aus? Wie verstehen sie Gramscis Texte in Bezug auf ihren Alltag? Wie erleben sie Hirschhorns kompromisslose, ‚elitäre‘ Kunst?
Ich will die Relevanz und Auswirkungen von Hirschhorns essentiellem Ziel erkunden: «Die Arbeit für den anderen bedeutet in erster Linie für den anderen in mir selbst. Es bedeutet auch Arbeit für eine nicht-exklusive Öffentlichkeit. Der andere kann mein Nachbar sein oder ein Fremder, jemand, der mich erschreckt, den ich nicht kenne und nicht verstehe.» Was heisst es, Kunst als Werk- zeug zu benutzten, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen, sich mit der Zeit zu konfrontieren oder der Realität zu stellen? Was heisst «Kunst politisch machen – nicht politische Kunst machen»?
Ich denke, dass dieser Film dem Publikum einen kritischen, neuen und einmaligen Einblick in Hirschhorns Arbeit geben kann. Die meisten Menschen werden nie das Privileg haben, einen wichtigen Gegenwartskünstler in seinem Denken, seinen Emotionen, seiner Energie, seiner Kompromisslosigkeit, seiner Widersprüchlichkeit, seinen kreativen Strategien und in seinem Arbeitsprozess kennen zu lernen. Mit diesem Kinodokumentarfilm will ich aber noch mehr. Ich will über Hirschhorn Kunst hinausblicken: Drei Monate nach der Kunstintervention werde ich die Protagonistinnen und Protagonisten aus der Sozialbausiedlung nochmals aufsuchen. Wie nachhaltig kann Kunst sein?“
Mit «Thomas Hirschhorn – Gramsci Monument» ist dem Basler Filmemacher Angelo A. Lüdin ein erstaunlich feinfühliger Film über einen als kompromisslos bekannten Künstler gelungen. … Die überraschenden Momente sind auch die spannendsten und schönsten des Filmes. Wenn einer der Anwohner nach dem richtigen Wort für das sucht, was er beschreiben will, und dann triumphierend «Philanthrop» in die Kamera sagt. Oder wenn die beiden älteren Frauen mit ihren weissen Stoffhütchen am Ende des Filmes auflisten, was sie durch Hirschhorn von Gramsci gelernt haben. Wie sie sich Notizen gemacht hätten jeden Tag, die sie nun in Ruhe ordnen würden, um sie später ihren Kindern und Enkeln zu vermachen.
Karen N. Gerig, Tages Woche
soap factory gmbh
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